Montag, 27. Oktober 2014

"Israelische Gesellschaft ist krank"

"Es ist an der Zeit ehrlich zuzugeben dass die israelische Gesellschaft krank ist - und es ist unsere Pflicht diese Krankheit zu behandeln."

Ich kann schon fast die helle Aufregung bei einigen Kritikern hören die sehr gerne die Antisemitismus-Keule schwingen würden. Dabei stammt diese Aussage von niemand geringerem als dem israelischen Staatspräsidenten Reuven Rivlin höchstpersönlich. Das hätte vermutlich niemand nicht einmal im Traum daran gedacht, dass der von der Likud stammende, der rechtsgerichteten Partei von Binyamin Netanyahu (aber alles andere als Parteifreund des Ministerpräsidenten), Politiker und ehemaliger Nachrichtendienstlicher Offizier der IDF solche Worte in solch einer Position äussern würde. Diese wahrlich unglaubliche Aussage machte Rivlin an der Israel Academy of Sciences and Humanities am 19. Oktober 2014 zum Thema "Von der Xenophobie zur Akzeptanz des Anderen".

Weshalb er solch eine ungewöhnlich scharfe und für die meisten Israelis auch völlig schockierende Wortwahl benutzte, erklärte Rivlin ebenfalls ziemlich deutlich:
"Die Spannung zwischen Juden und Arabern innerhalb des Staates von Israel ist auf Rekordhöhe gestiegen und die Beziehung zwischen allen Parteien hat einen neuen Tiefpunkt erreicht. Wir haben alle die schockierenden Sequenzen von Vorfällen und Gewalt bezeugt die auf beiden Seiten stattfanden. Die Epidemie der Gewalt ist nicht auf den einen oder anderen Sektor beschränkt, sie durchdringt jedes Gebiet und überspringt kein (einziges) Gebiet. Da ist die Gewalt in Fussballstadien sowie in der Akademie. Da ist die Gewalt in den Sozialnetzwerken und im täglichen Diskurs, in Krankenhäusern und Schulen."
Was der israelische Staatspräsident da angesprochen hat ist nichts weiter als eine Bestandesaufnahme der aktuellen Situation in Israel. Die Leserinnen und Leser dieses Blogs wissen was Reuven Rivlin damit gemeint hat. Im Artikel "Rassismus in Israel ist kein Randphänomen" vom 10.07.14 hatte ich folgendes geschrieben: "Dieses Eisen ist so heiss, dass sich sämtliche westliche Medien weigern von dieser Tatsache zu berichten."
Daran hat sich auch heute nichts geändert. Man findet nicht einen einzigen Bericht in irgendeinem deutschsprachigen Medium - abgesehen von einigen Blogeinträgen - die das so wichtige Eingeständnis des israelischen Staatspräsidenten erwähnt haben. Nicht einen! Dabei könnte es nicht Wichtiger sein. Wir haben eine Situation in der ein mit Nuklearwaffen bestücktes Land seit seiner Geburt ein kolonialistisches Projekt verfolgt und im Zuge dessen die eigene Bevölkerung radikalisiert wurde, was schliesslich im offenen Rassismus und religiösem Nationalismus endete, deren Auswirkungen solche Ausmasse erreicht haben dass sogar der eigene Staatspräsident von einer "Epidemie der Gewalt" spricht. Das war nicht nur eine Feststellung von Reuven Rivlin, sondern eine eindringliche Warnung!

Offensichtlich reicht dieser sehr gefährliche Mix nicht aus um Eingang in unsere Berichterstattung zu finden. Stattdessen beschreibt der deutsche Tagesspiegel "ein nach der Atombombe strebender Iran bleibt aus israelischer Sicht die grösste Bedrohung." Und obwohl die Autorin Juliane Schäuble den israelischen Staatspräsidenten in ihrem Artikel erwähnt, klammert sie vermutlich bewusst dessen Warnung aus. Es will einfach nicht in die Vorbereitungen der Feierlichkeiten der 50-jährigen deutsch-israelischen Beziehungen passen was Rivlin zu seinen jüdisch-israelischen Landsfrauen und Landsmänner noch weiter zu sagen hatte:
"Ich frage nicht ob sie vergessen haben wie man Jude sein soll, sondern ob sie vergessen haben wie man (ein) anständiges menschliches Wesen sein kann. Haben sie vergessen wie man sich unterhält?"
 Während sich der Artikel des Tagesspiegel auf die Zeitzeugen des Holocausts und des Antisemitismus bezieht, um ebenfalls eine Warnung zu formulieren die sich aber einem ganz anderem Thema widmet (dem Vergessen der "unvergleichlichen Schuld und dem Wunder der Wiederannährung"), so bezieht sich Reuven Rivlin auf dieselben jüdischen Zeitzeugen und meint, "dass sie sensitiver mit den Gefahren der Aufhetzung" umgehen sollten und impliziert mit seiner rhetorischen Frage "Sind es wir?", dass die jüdisch-israelische Gesellschaft es eben nicht ist. Aber davon liest man beim Tagesspiegel nichts.

Natürlich hat Rivlin absolut recht damit wenn er sagt dass die "israelische Gesellschaft krank ist". Und natürlich trifft auch die Frage "ob sie vergessen haben wie man ein anständiges menschliches Wesen sein kann" auf alle diejenigen zu, die im Sommer diesen Jahres ihr wahres Gesicht gezeigt haben als sie marodierend durch die Strassen von Jerusalem und Tel Aviv zogen und "Tod den Arabern skandierten" (siehe auch "Wie Israel den Tod von 3 Jugendlichen ausgenutzt hat"). Oder wie die israelische Besatzungsmacht gezielt gegen palästinensische Fussballer vorgeht, wohlwissend dass in einer fussballverrückten Nation die jungen Talente wie Helden gefeiert werden, weil sie so etwas wie die Propheten einer besseren Zukunft sind und sie deshalb zerstört werden müssen um immer wieder zu beweisen wer der Herr im Ring ist.

                                     Palästinensisches Nationalteam (Bild von AP/Tara Todras-Whitehill)

Diese gezielten Attacken auf palästinensische Fussballer sorgte sogar fast zum Ausschluss von Israel bei der FIFA und konnte nur im letzten Moment von Sepp Blatter abgewendet werden, da er sich nicht der politischen Konsequenzen stellen wollte die solch ein Ausschluss mit sich gezogen hätte. 
Die Gewalt gegen palästinensische Sportler macht nicht einmal Halt vor israelischen Fussballvereinen, die palästinensische oder muslimische Spieler verpflichten. Als Beitar Jerusalem, einer der berüchtigsten Fussballclubs von Israel aufgrund seiner "Fangemeinde" La Familia, letztes Jahr zum zweiten Mal in der Vereinsgeschichte zwei muslimische Tschetschenen verpflichten wollte (im Jahr 2005 verpflichtete man einen Nigerianer der aber wegen den rassistischen Parolen schnell wieder ging), reagierten die "Fans" empört und streckten beim nächsten Spiel Banner in die Höhe mit dem Aufdruck "Beitar bleibt für immer pur". Aber nicht nur bei Beitar Jerusalem kommt es zu solchen rassistischen Übergriffen. Maharan Radi, ein palästinensisch-israelischer Mittelfeldspieler bei Maccabi Tel Aviv wird immer wieder ausgepfiffen und mit "Fuck the Arabs" beschimpft oder angespuckt.

Und wieder war es Reuven Rivlin der damals als Parlamentssprecher das offensichtliche aussprach:
"Stellt euch vor, stellt euch nur mal vor was passiert wäre wenn (Fussball-) Vereine in England und Deutschland angekündigt hätten, dass ein Jude nicht ihrem Team beitreten kann."
Insbesondere Deutschland hat die allergrösste Mühe das Offensichtliche auch entsprechend auszusprechen. In einer Bundespressekonferenz vom 14. Oktober 2014 erinnerte Tilo Jung von Jung&Naiv den Sprecher des Auswärtigen Amtes, Dr. Martin Schäfer, der zuvor schon einer Frage ausgewichen ist ob denn die West Bank nicht "besetztes Land" ist, mit der Feststellung dass doch "die Besatzung international anerkannt ist". Bei der Antwort von Dr. Schäfer wurde die gesamte Verbiegungskunst der deutschen Politik offenbart:
"Ich sprach davon dass es besetzte Gebiete gibt, aber ich habe mir ausdrücklich den Begriff der Besatzung nicht zu eigen gemacht. Ich bitte Sie, das einfach zur Kenntnis zu nehmen."
 Die Appeasement-Politik der deutschen Regierung gegenüber Israel geht sogar soweit, dass man nicht einmal ein "Existenzrecht für Palästina" zugesteht, weshalb dann auch nicht von einem "besetzten Land" die Rede ist, sondern nur von "besetzten Gebieten".

 Schweden, Irland, Spanien und Kroatien haben angekündigt einen palästinensischen Staat anzuerkennen und Frankreich und Russland sind für diesen Schritt "grundsätzlich bereit". Grossbritannien hat erst vor knapp zwei Wochen mit einer klaren Mehrheit bei einer Abstimmung in dieser Frage die Weichen gesetzt, als das Parlament mit 274 zu 12 Stimmen ein Signal an die Regierung von David Cameron und insbesondere an die Adresse der Vereinigten Staaten von Amerika gesetzt wurde. Wie lange Deutschland noch die Augen vor der Besatzung - auch wenn Dr. Martin Schäfer sich diesen "Begriff nicht zu eigen gemacht" hat - und vor dem gewaltigen Problem der "kranken israelischen Gesellschaft" verschliessen will, wird massgeblich davon abhängen wie lange Berlin die Appeasement-Politik gegenüber Israel betreiben will.

Als Partner einer "einzigartigen Beziehung" die "eine neue Qualität erlangt hat", wäre es eigentlich die Pflicht Deutschlands die Warnungen seines anderen Partners ernst zu nehmen und ihm, um bei den Worten des israelischen Staatspräsidenten zu bleiben, bei "der Behandlung der Krankheit" behilflich zu sein. Die Negierung dieses Problems wird nur zu noch mehr Leid und Blutvergiessen führen.

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